Ein Instrument Strategischer Unternehmensführung?

Mystery ShoppingVon Jörg Kohlbacher, Dr. Nicolai Egloff


Einleitung

Die Bedeutung der Marktforschung hängt immer mehr davon ab, ob sie die von den Auftraggebern gewünschte Beratungskompetenz unter Beweis stellen kann. Ein Instrument des angestrebten Wandels vom »Datensammler« zum »Berater« ist das Mystery Shopping. Dieses hat gegenüber der Kundenbefragung den Vorteil, dass es stärker prozessorientiert ausgerichtet werden kann. Nutzt man dieses Potenzial für eine Transformation der Daten in Qualitätskennziffern, können die Marktforschungsergebnisse direkt in die Entscheidungsprozesse des strategischen Managements eingebunden werden.

 

Das ungenutzte Potenzial des Mystery Shoppings

Dass Marktforscher allzu oft hart dafür kämpfen müssen, die ihnen von vielen zugedachte Rolle des »Datensammlers« umzudefinieren zum wichtigen Berater bei strategischen Unternehmensentscheidungen, dürfte vielen von uns - sei es in der Industrie oder in den Instituten - nur zu vertraut sein.
Schließlich kennt wohl jeder von uns die Situation, dass »unsere« Daten zwar bis in die obersten Führungsebenen Eingang finden, jedoch nicht selten die Fülle und häufiger wohl auch die »Sperrigkeit« der Informationen dann deren weiterer Verwendung ein jähes Ende setzen. Wer von uns hat sich nicht schon kopfschüttelnd darüber gewundert, wie sich die ein oder andere strategische Unternehmensentscheidung eigentlich mit den vorliegenden Untersuchungsergebnissen aus der Marktforschung »verträgt«?

Warum nun aber ausgerechnet in einem an sich sehr traditionellen und in der Zunft bestens etabliertem Verfahren wie dem Mystery Shopping - unserer festen Überzeugung nach - ungeahnte Chancen für diesen angestrebten »Rollenwechsel« vom »Datensammler« zum geschätzten »Berater« stecken, ist weit weniger evident. Tatsächlich bleiben uns diese Chancen auch solange verborgen, wie wir mit dem klassischen Verständnis des Mystery Shoppings als einem alternativen Verfahren der Kundenzufriedenheitsmessung herangehen, mit dessen Hilfe man mehr oder weniger interessante »vor-Ort-Informationen« gewinnen kann.

Mystery Shopping generiert, definiert man es im klassischen Sinne, zwar einen »Mehrwert« an Daten, da die Ergebnisse im Vergleich zur Kundenbefragung weniger durch die Wahrnehmung des Befragten beeinflusst werden. Die Potenziale, die in dieser stärkeren Prozessorientierung stecken, bleiben aber so lange ungenutzt, wie die erhobenen Daten nicht in den Informationsfluss der strategischen Unternehmensführung einfließen können.

Aus diesem Dilemma von geringer strategischer Relevanz und relativ hohen Kosten (gerade im Mystery Shopping, das häufig sehr »feldintensiv« ist) entsteht der uns allen nur zu bekannte Rechtfertigungsdruck, mit dem wir alle in Zeiten zähen Konjunkturverlaufs konfrontiert sind.
Während andere Unternehmensbereiche (wie Vertrieb oder Einkauf) quasi automatisch und »nebenbei« strategisch relevante Kennziffern liefern - die in der Regel auch unmittelbare Entgeltrelevanz zur Folge haben -, gilt die Marktforschung in der Regel bei den betrieblichen Entscheidern nicht als direkte Quelle strategisch umsetzbarer Informationen.

Wir sind auf der Grundlage verschiedener in den letzten Jahren durchgeführter Projekte zu der Auffassung gekommen, dass gerade die Methode des Mystery Shopping, betrachtet man sie nicht als isoliertes Marktforschungsprojekt, sondern strukturiert sie konsequent um die strategische »Verwertbarkeit« der Ergebnisse, wesentlich mehr leisten kann, als der Marktforschung gemeinhin zugetraut wird.
Anhand des folgenden Praxisberichts soll aufgezeigt werden, wie man mit Hilfe dieses Verfahrens - versteht man es als Teil des Qualitätsmanagements - ein permanentes Monitoring und Controlling strategisch wichtiger Unternehmensdaten etablieren kann, welches es ermöglicht Marktforschungsdaten so in das unternehmensinterne Informationsmanagement zu integrieren, dass sie zur Grundlage unternehmerischen Handelns werden können.

 

Ein Praxisbeispiel

Das Kennziffernsystem

Abbildung 1: Das Kennziffernsystem (Aufbauprinzip)

Unser Kunde - ein weltweit operierendes Unternehmen - vertreibt seine Produkte über verschiedene Vertriebswege. Dabei kommt dem Vertrieb über die etwa 500 unternehmenseigenen Outlets eine in quantitativer aber vor allem auch in qualitativer Hinsicht ganz besondere Bedeutung zu.
Diese Outlets sind nicht nur der wichtigste Vertriebsweg für die konzerneigenen Produkte und Dienstleistungen, sondern stellen darüber hinaus als direkte Schnittstelle zum Kunden die »Visitenkarte« des Unternehmens dar. Um die Shops möglichst optimal auf die unterschiedlichen Kundenbedürfnisse und Kundenfrequenzen anzupassen, sind verschiedene Outlet-Lines am Markt aktiv.
Die hier am Point-of-Sale vom Kunden wahrgenommene Serviceorientierung und Qualitätsanmutung ist einer der wichtigsten Faktoren für die nachhaltige Bindung der Kunden an das Unternehmen und damit letztendlich den Markterfolg.

Um einen einheitlichen Marktauftritt zu gewährleisten, bestehen zentrale Vorgaben hinsichtlich des Erscheinungsbildes der Ladengeschäfte, der angebotenen Waren und Dienstleistungen sowie der Beratungsleistung der dort beschäftigten Mitarbeiter. Neben den Grundanforderungen, die von allen Outlets erfüllt werden müssen, bestehen für die »großen« Shops zusätzliche, auf die jeweilige Zielgruppe ausgerichtete Anforderungen.

Die zentralen Vorgaben für die Ausstattung der Geschäfte (»Marktauftritt«), die Organisation des Geschäftsbetriebs (»Shoporganisation«) sowie die Beratungskompetenz und die verkäuferische Leistung der Mitarbeiter (»Fachliche Kompetenz«) werden auf der mittleren Führungsebene entwickelt (Shop Management) und sind ein fester Bestandteil der konsequent auf den Markt ausgerichteten Unternehmensstrategie.

Die Überprüfung, ob die festgelegten Vorgaben tatsächlich in der Praxis eingehalten werden, ist ein wichtiger Baustein eines umfassenden Monitorings aller strategisch wichtigen Unternehmensaktivitäten. Im Rahmen des Monitoring Shop Management wird daher der Grad der Übereinstimmung des faktischen Ist-Zustandes mit den Sollvorgaben gemessen.

Der Marktauftritt und die Shoporganisation werden, da sie eine »offene« Herangehensweise durch legitimierte Interviewer erfordern, mit dem Instrument des Store Check, also der detaillierten Überprüfung der zentralen Vorgaben in den einzelnen Filialen, kontrolliert.

Um auch besonders »sensible« Bereiche (wie Kasse, Tresor, Sicherheitsaspekte) und die internen Regelungen (zum Beispiel Dienstpläne, Stellvertreterregelungen) regelmäßig überprüfen zu können, wird der Store Check im vierteljährlichen Wechsel abwechselnd von unseren »externen« Interviewern sowie von »internen« Kräften unseres Klienten durchgeführt. Diese Vorgehensweise hat zudem den methodischen Vorteil einer zusätzlichen Validierung der erhobenen Daten durch den Vergleich der internen und externen Ergebnisse.

Im Gegensatz zum Marktauftritt und der Shoporganisation kann die fachliche Kompetenz des Verkaufspersonals (im Sinne der Beratungskompetenz und der verkäuferischen Leistung) bekanntermaßen nur »verdeckt« überprüft werden, da eine offene Herangehensweise eine Verzerrung der Beratungssituation zur Folge hat.

Diese Aufgabenstellung ist seit jeher die Domäne des Mystery Shopping. So auch in unserem Fallbeispiel: halbjährlich werden alle konzerneigenen Outlets mit drei bis sechs verschiedenen Szenarien (je nach Größe der Shops) besucht. Vom Ablauf her folgt die Durchführung den branchenüblichen Standards, wobei besonderer Wert auf eine intensive Schulung gelegt wird. Diese wird unter Anwesenheit aller an der Studie beteiligten Interviewer zentral von den Projektleitern durchgeführt.

Bis hierhin unterscheidet sich unser Projekt kaum vom »klassischen« Mystery Shopping. Der angesprochene Mehrwert, aber auch die besonderen Ansprüche an die Qualität der Datenerhebung, entstehen durch die Einbettung der Untersuchung in das unternehmensinterne Qualitätsmanagement. Wie gelingt es nun, die Marktforschungsergebnisse so umzusetzen, dass aus den Daten weiterverarbeitbare Informationen entstehen? Die Antwort klingt auf den ersten Blick relativ einfach: durch die Generierung entsprechender Kennziffern. Was sich in der Praxis durchaus als komplexe Aufgabe darstellt, wie die folgenden Ausführungen zeigen sollen.

 

Umsetzung von Marktforschungsergebnissen in Qualitäskennziffern

Informationssystem

Abbildung 2: Informationssystem

Stark vereinfacht besteht die Lösung aus vier aufeinanderfolgenden Schritten:
1. Dem Aufbau eines geeigneten Kennziffernsystems
2. Der Gewichtung verschiedener Fragenkomplexe und Variablen
3. Der Entwicklung einer Berechnungssystematik und der Berechnung der Kennziffern
4. Der Übertragung der berechneten Kennziffern in die unternehmensinternen Informationssysteme. In unserem konkreten Beispiel stellen sich diese Schritte wie folgt dar:

Das Kennziffernsystem

Das Kennziffernsystem im Bereich der fachlichen Kompetenz besteht aus drei verschiedenen Dimensionen: der Erscheinung und Wirkung des Verkaufspersonals, der Beratungskompetenz sowie der verkäuferischen Leistung. In diesen Dimensionen werden die unterschiedlichen Themenbereiche des Beobachtungsprotokolls nach inhaltlichen Kriterien zusammengefasst (siehe Abbildung 1).

Die Gewichtung der Variablen

Die Themenbereiche komprimieren die verschiedenen Variablen, die im Beobachtungsprotokoll abgefragt werden. Jede einzelne Antwort geht mit einer bestimmten Punktzahl in den Wert des Themenbereichs ein. Die Berechnungslogik funktioniert dabei folgendermaßen: für jede Variable existieren ein Sollwert und ein Istwert. Der Sollwert stellt die optimale Lösung dar, während der Istwert die tatsächlich vorgefundene Situation widerspiegelt. Sowohl die Sollwerte der Variablen als auch die Istwerte der verschiedenen Ausprägungen werden vor Beginn der Feldarbeit von den für das Shop Management Verantwortlichen entsprechend der strategischen Relevanz des jeweiligen Faktors festgelegt.

Der Wert für den einzelnen Themenbereich wird als Zielerreichungsgrad zwischen 0 und 100 Prozent ausgewiesen. Dieser wiederum hat ein spezifisches Gewicht in der Berechnung der Dimensions-Kennziffern, die einen Wert zwischen 0 und 10 erreichen können. Eine weitere Gewichtungsstufe fasst die Dimensionen zu der Gesamt-Kennziffer (ebenfalls zwischen 0 und 10) für den Bereich »Fachliche Kompetenz« zusammen (siehe Abbildung 2).

Die Berechnung der Kennziffern

Durch die Tatsache, dass jeder einzelnen Variablen ein Sollwert und jeder einzelnen Merkmalsausprägung ein Istwert zugeordnet wird - und nicht zuletzt durch die mehreren Gewichtungsstufen -, ergibt sich aus dem relativ kompakt konstruierten Kennziffernsystem eine komplexe Berechnungssystematik. Da diese eher eine technische als eine methodische Herausforderung darstellt, wollen wir sie hier nicht im Detail vorstellen. Wichtiger in diesem Zusammenhang scheint uns der Hinweis, dass die Bedeutung, welche die Kennziffern für die strategische Unternehmensführung erlangen, erhebliche Auswirkungen auf die Fehlertoleranz der Ergebnisse hat. Während üblicherweise in der Marktforschung Fehler zumindest im Promillebereich als unvermeidbar gelten, liegt in unserem Fall die Fehlertoleranz bei exakt null Prozent. Dies erfordert nicht nur bei der Ausformulierung der Berechnungssystematik absolute Exaktheit, sondern natürlich auch bei der Datenerfassung und der Berechnung der Kennziffern.

Alle Schritte von der Datenerfassung bis zur Ergebnispräsentation unterliegen daher einem besonders strengen Kontrollsystem. Die Daten der Interviewerprotokolle werden doppelt erfasst und anschließend abgeglichen, so dass Erfassungsfehler als Fehlerquelle ausgeschlossen werden können. Alle weiteren Stufen der Ergebniserstellung werden von jeweils unterschiedlichen Mitarbeitern erstellt beziehungsweise geprüft. Auch die Kennziffern werden von unterschiedlichen Personen doppelt berechnet und anschließend verglichen, so dass Berechnungsfehler ausgeschlossen werden können.

Da wir es mit einem dynamischen Instrument zu tun haben, sich also für jede neue Welle des Mystery Shopping die Szenarien und damit auch die Beobachtungsprotokolle verändern, muss die Kennziffernberechnung jeweils neu überarbeitet und angepasst werden. Um die Vergleichbarkeit der Ergebnisse zu gewährleisten, bleiben die Gewichtungen der verschiedenen Themenbereiche dagegen für jede Welle identisch.

Transfer der Kennziffern in die internen Informationssysteme

Die Frage der Übertragung der Kennziffern ist wenig spektakulär, aber für die weitere Verwertbarkeit der Kennziffern von hoher Bedeutung. Nur wenn diese in einem für die internen Informationssysteme »lesbarem« Format geliefert werden, können sie die ihnen zugedachte strategische Bedeutung auch erlangen. Die genaue technische Lösung dieser Herausforderung soll hier nicht im Einzelnen erörtert werden. Kommen wir lieber zu der entscheidenden Frage, wie unsere Kennziffern letztlich im Unternehmen genutzt werden.

 

Die Umsetzung der Ergebnisse

Beratungskompetenz - Regionen

Tabelle 1: Beratungskompetenz - Regionen

Zum einen werden die Kennziffern, wie oben bereits angedeutet, in das Management-Informations-System des Unternehmens eingespielt. Dort dienen sie sowohl dem internen Benchmarking der Outlets als auch der Entwicklung von Zielvereinbarungen. Das Benchmarking der Ergebnisse findet sowohl auf der Ebene der unterschiedlichen Outlet-Lines als auch zwischen den einzelnen Regionen, die jeweils etwa 20 bis 40 Shops umfassen, statt. Die Ergebnisse sind zudem Gegenstand von Arbeitssitzungen der Führungsebene mit den Regionalleitern beziehungsweise der Regionalleiter mit den entsprechenden Shopverantwortlichen. Hier werden die Kennziffern kritisch analysiert und die Ursachen für besonders gute beziehungsweise besonders schlechte Ergebnisse herausgearbeitet.

Das Ergebnis dieser intensiven Arbeit mit den Kennziffern ist der Abschluss von entsprechenden Zielvereinbarungen. Das Erreichen der darin festgelegten Ziele hat unmittelbare Konsequenz für die Höhe des variablen Gehaltsanteils sowohl der Führungskräfte in der Zentrale und den Regionen als auch der Mitarbeiter in den Shops.

Um die doch sehr abstrakten Kennziffern für die Führungskräfte des Unternehmens, aber auch für den einzelnen Mitarbeiter in den Shops, transparent zu machen, werden diese zum anderen auf verschiedene Weise graphisch aufbereitet.

Für die Führungsebene werden sowohl die regionalen Ergebnisse als auch die Ergebnisse auf Shopebene (getrennt nach OutletLine) für jede Kennziffern-Dimension in einem Ranking dargestellt (Tabelle 1).

Die einzelnen Shops erhalten eine jeweils individuelle Darstellung ihrer Kennziffern und Zielerreichungsgrade, wobei zur besseren Einschätzung des eigenen Ergebnisses auch der jeweils beste Shop der entsprechenden Outline-Line, der Durchschnitt pro Line sowie der Durchschnitt aller Shops ausgewiesen werden.

Beratungskompetenz

Beratungskompetenz

 

Fazit

Dass ein so etabliertes Instrument wie das Mystery Shopping Informationen erzeugen soll, die direkten Einfluss auf die strategische Unternehmensführung nehmen, mag einem klassischen Verständnis der Rolle der Marktforschung zunächst widersprechen. Wir sind allerdings der festen Überzeugung, dass die Marktforschung sich zunehmend in Richtung eines direkten »Zuarbeiters« der Entscheidungsträger in den Unternehmen entwickeln muss, um auf lange Sicht nicht an Bedeutung zu verlieren. Die von uns angemahnte stärkere »Beratungsorientierung« gerade der Marktforschungsinstitute meint dabei nicht, dass wir uns von unseren Wurzeln - der Erhebung von Daten mit methodisch sauberen Instrumenten - verabschieden sollten. Im Gegenteil kann unserer Auffassung nach die Wertschätzung der Marktforschung nur profitieren, wenn deutlich wird, dass »Beratung« durch Marktforscher auf der Grundlage solider empirischer Arbeit basiert.

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Planung & Analyse, 05.2003
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