Ein Thema für die Marktforschung.
KundenbindungVon Jörg Kohlbacher, Dr. Nicolai Egloff
Einleitung
Es ist noch nicht allzu lange her, da stand ein Thema wie die Kundenbindung in der Marktforschung nicht sehr weit oben auf der Tagesordnung. Traditionellerweise war Kundenbindung ein zutiefst operatives Thema, welches in erster Linie von den »Mitarbeitern an der Front« - Vertrieb und Außendienst - zu bearbeiten war. Marktforscher haben ihre Stärken eher darin zu wissen, was die Kunden wollen, als darin was der Kunde will. So blieb »unser« Beitrag zu diesem Thema eher marginal. Als die Diskussion um Kundenbindungsmaßnahmen zunahm, waren es (wieder einmal) andere Professionen, die dies Themen zuerst entdeckten:
Den eher konzeptionell-kreativen Teil besetzte die Heerschar der Berater für sich, die unter anderem mittels des Labels CRM allerlei Konzepte implementierten, deren empirische Validierung einerseits aber auch deren Beitrag zur Wertschöpfung anderseits des öfteren mindestens fragwürdig erscheint.
Den analytischen Fragestellungen nahmen sich unsere Beobachtung nach zunehmend die Speziallisten des Database-Marketings an, was nicht selten zu eher technokratischen Auswüchsen der Behandlung des Themas führte und führt, wobei der Kunde und dessen Bedürfnisse selbst dabei in ständiger Gefahr sind in den Hintergrund zu rücken.
Ob aus der in den vergangenen Jahren vielzitierten und oft gescholtenen Service-Wüste Deutschland mittlerweile eine Service Oase geworden ist, oder ob möglicherweise das Thema Kundenorientierung bei den meisten Unternehmen eher verbal als faktisch ernst genommen wird, sei dahingestellt.
Kundenbindung: Nur eine variante der Zufriedenheitsforschung?
Abbildung 1: Kundenzufriedenheit und -bindung
Die Marktforschung näherte sich der Kundenbindung zunächst verhalten, wobei diese als eine Art »verlängerte Werkbank der Kundenzufriedenheitsforschung« behandelt wurde. Letztere hat sich in den vergangenen Jahren - mehr oder weniger variantenreich - bei faktisch allen Instituten aber auch der betrieblichen Marktforschung etabliert und ist aus dem Produktportfolio der deutschen Forscher nicht mehr wegzudenken. Kundenbindung wird konsequenterweise als systematische Folge von Kundenzufriedenheit begriffen, wobei unterstellt wird, dass zufriedene Kunden auch treue (ergo: gebundene) Kunden sind. Die Berechnung der Bindung erfolgt mittels mehr oder minder ausgefeilter Indices, die im Wesentlichen aus den bekannten Faktoren - Qualitätswahrnehmung, Nutzen, Bereitschaft zur Wiederwahl eines Anbieters und der Bereitschaft diesen zu empfehlen - bestehen. Die genaue Dosierung und Gewichtung der einzelnen Elemente wird dabei zumeist als Institutsgeheimnis gehütet. Als Ergebnis erhält man dann die weithin bekannten und je nach Institut unterschiedlichen »sehr loyalen«, »loyalen«, »kritischen«, »gefährdeten« oder wie auch immer etikettierten Kundengruppen (siehe Abbildung 1).
So berechtigt und wertvoll diese Betrachtungsweisen und Analysen sind, muss man noch konstatieren, dass eine derart abstrakte Betrachtung des Themas Kundenbindung zwar von erkennbarer strategischer aber doch letztlich nur von begrenzter operativer Bedeutung ist. Es bleibt:
Die besondere Herausforderung für die Marktforschung besteht beim Thema Kundebindung darin, dass wir uns stärker darauf konzentrieren müssen, was der Kunde will, anstatt unseren Kollegen zu erklären, was die Kunden im allgemeinen wollen! Damit hier keine Missverständnisse entstehen: Selbstverständlich steht der Wert und die Bedeutung der inzwischen allgegenwärtigen Kundenzufriedenheitsforschung außer Frage. Kundenzufriedenheit zu messen, zu »monitoren« und zu managen ist in umkämpften und gesättigten Märkten ein absolutes »Must« und durch nichts zu ersetzen. Auch soll hier keineswegs ein kausaler Zusammenhang - wie auch immer er theoretisch erklärt wird - zwischen Kundenzufriedenheit und Kundenbindung bestritten werden. Es stellt sich jedoch zunehmend die Frage, ob die Marktforschung nicht zusätzliche wesentlich wertvollere Beiträge zur Kundenbindung liefern könnte, wenn sie denn bereit ist, den Olymp der abstrakten Analyse zu verlassen und sich auf die Ebene des konkreten Tagesgeschäfts zu begeben.
Die »wahren« Praktiker der Kundenbindung
Eben dieses Tagesgeschäft gehört - zumindest in den Endverbrauchermärkten, wo nicht der Außendienst dominiert - heute nicht selten den »Call Agents« der Telemarketing-Agenturen, die im direkten Gespräch mit den Kunden die Vorteile des eigenen Unternehmens ins rechte Licht rücken und damit in der 1:1 Situation Kundenbindung »produzieren«. Im direkten Kontakt mit dem Kunden am Telefon entscheidet sich letztlich die praktische Kundenzufriedenheit im Gegensatz zu der ex-post aus Umfragedaten rekonstruierten und daher eher theoretischen Messung der Zufriedenheit. Zudem hat ein Anruf einer Telemarketing-Agentur meist einen konkreten Anlass und bedeutet damit ein aktives Hinarbeiten auf den gewünschten Soll-Zustand, während die klassischen Indizes lediglich den bestehenden Ist-Zustand (Qualität, Nutzen) beziehungsweise mehr oder weniger unspezifische Absichtserklärungen (Wiederwahl, Empfehlungsbereitschaft) messen können. Unserer Erfahrung nach wird daher mittlerweile in vielen Unternehmen neben den klassischen Kundenzufriedenheitsuntersuchungen mit Hilfe des Telemarketing ein aktives Kundenbindungsmanagement betrieben. Zielsetzung ist es dabei, im telefonischen Kontakt Kunden, von denen man befürchtet, sie könnten sich vom Unternehmen abwenden, durch attraktive Angebote weiterhin an das Unternehmen zu binden.
Berührungsängste überwinden
Abbildung 2: Balance divergierender Ziele
Der Erfolg des Telemarketings wird von seinen Kritikern (zu denen nicht wenige Marktforscher gehören dürften) allzu oft und vor allem vorschnell hauptsächlich auf die Überredungskünste der Call Agents zurückgeführt. Diese Sichtweise unterstellt dabei, dass es mit Hilfe geeigneter »rhetorischer Tricks« gelingen kann, dem Kunden etwas zu verkaufen, was er gar nicht haben will. Konsequenterweise investieren nicht wenige Unternehmen lieber in Verkaufsseminare obskurer »Trainer« als in die inhaltliche Analyse der eigentlichen Kundenwünsche.
Der kurzfristige Erfolg solcher Strategien ist dabei sicherlich nicht zu leugnen, auf lange Sicht aber (und genau darum geht es bei der Kundenbindung) wird hier wahrscheinlich nicht selten mehr Kundenvertrauen verspielt, als durch zusätzliche »Ad-hoc Umsätze« kompensiert werden kann.
Sofern die Unternehmensstrategie neben allen operativen unvermeidlich notwendigen Tageszielen auch auf Nachhaltigkeit in der Kundenbetreuung und damit auf langfristige Bindung setzt, ist die Zieldefinition für die Call Agents weitaus komplizierter als es zunächst den Anschein hatte. Es gilt die Balance von mindestens vier Zielen gleichzeitig im Auge zu behalten:
1. Eine Maximierung der Annahmequoten der offerierten Angebote,
2. unter Minimierung der eingesetzten direkten (Incentive-)Kosten
und indirekten (Zeit-)Kosten,
3. unter Berücksichtigung des Kundenwertsegments des Kunden (das Kundenwertsegment beschreibt die Einordnung der Kunden in Abhängigkeit vom getätigten Umsatz),
4. bei gleichzeitig anzustrebender möglichst hoher Zufriedenheit der Kunden mit dem Gesprächsverlauf.
Dabei kann das Feintuning der zum Teil divergierenden und widersprüchlichen Zieldefinitionen noch je nach Kundengruppe variiert werden:
Während man bei den »umsatzstarken« Kunden deutlich höhere Kosten in Kauf nimmt, um eine hohe Beratungsqualität sicher zu stellen und möglichst viele dieser Kunden weiterhin ans Unternehmen zu binden, variiert man diese Ziele bei
den etwas weniger umsatzstarken Kundengruppen deutlich nach unten. Während die Grenzen dessen, wie viel für welchen Kundentyp maximal auszugeben ist, im Wesentlichen aus dem Controlling kommen, kann letzteres nur wenig zur Ausbalancierung der einzelnen Variablen in dieser sensiblen und zerbrechlichen Beziehung beitragen. Unter Ausbalancierung verstehen wir dabei die Beantwortung der folgenden Fragen (siehe Abbildung 2):
1. Wie viel Prozent des Erfolgs der Telemarketing-Aktivitäten hängen von der Art des offerierten Angebots, des Incentive ab?
2. Welche Angebote, Incentives in welcher Kombination versprechen den höchsten Erfolg in der Bindung der Kunden?
3. Wie viel Prozent des Erfolgs hängen von der Beurteilung der Gesprächs- und Beratungsqualität ab? Auf welche Dimensionen im Gesprächsverlauf kommt es besonders an?
4. Gibt es in der Akzeptanz der Angebote seitens der Kunden Unterschiede zwischen verschiedenen Kundentypen? Mit welchen Fragen lassen sich die Kundentypen am schnellsten identifizieren?
Unversehens wird deutlich, dass die Beantwortung geradezu klassischer Fragestellungen der Marktforschung im Dienste des Telemarketings, eine enorme operative Bedeutung in der Unterstützung der aktiv betriebenen Kundenbindung erzielen können.
Analytisches Vorgehen balanciert Ziele aus
Abbildung 3: Determinanten der Angebotsannahme
Das diesen Überlegungen zu Grunde liegende Modell lässt sich vereinfacht folgendermaßen darstellen:
Die Akzeptanz beziehungsweise die Ablehnung des Angebotes ist das Resultat eines Entscheidungsprozesses, den der Kunde während des Telefonats (und gegebenenfalls in der Bedenkzeit danach) durchläuft.
Der Entscheidungsprozess selbst wird durch eine Kombination aus der wahrgenommenen Qualität des Anrufs und der wahrgenommenen Qualität des offerierten Angebots determiniert. Die beiden Kernvariablen dieses Prozesses - wahrgenommene Anruf- und Angebotsqualität - lassen sich weiter analysieren und für die ganz praktische Umsetzung nutzbar machen (siehe Abbildung 3).
Der Inhalt des Angebots: Auf der Grundlage der vorhandenen Kundendaten aus dem Data Warehouse sowie dem Kundenwertsegment werden der Typ des Angebots sowie die maximale Höhe des Incentive für jeden Kunden individuell festgelegt. Hier sollte es dem Call Agent möglich sein, im Verlauf des Gesprächs auf die zusätzlich ermittelten beziehungsweise gegenüber den Vorgaben veränderten Rahmenbedingungen flexibel zu reagieren, um den Inhalt des Angebots entsprechend anzupassen. Dabei ermöglichen spezifische Analysen vergangener Aktionen mittlerweile, dass man, sofern der Kundentyp klar identifizierbar ist, den Agents sehr konkrete Anhaltspunkte geben kann, welches Angebot die höchste Annahmewahrscheinlichkeit erreicht (siehe Abbildung 4).
Die zweite wesentliche Dimension, die im Entscheidungsprozess eine Rolle spielt, ist die Wahrnehmung der Qualität des Anrufs selbst. Diese lässt sich im Wesentlichen aus den Dimensionen »Kundenorientierung«, »Beratungsorientierung« und »Vertrauenswürdigkeit« erklären. Auch hier lassen sich sehr deutlich Zusammenhänge zwischen der subjektiv wahrgenommenen Zeit, die sich der Callcenter Agent für das Gespräch gelassen hat, und der Annahmequote nachweisen. Die dabei zu Grunde liegende Mechanik ist die, dass proportional in dem Maße, wie der Agent sich Zeit für die Beratung lässt, das subjektive Gefühl beim Kunden individuell betreut zu werden, wächst. Ausgehend von dieser Erkenntnis ist es an den Marktforschern, den Verantwortlichen der Telemarketingaktivitäten, diesen Zusammenhang aufzuzeigen und nutzbar zu machen. So kann zum Beispiel eine Verdopplung der Gesprächsdauer zu einer deutlich höheren Annahmequote der Angebote führen, die die damit verbundenen zusätzlichen Zeitkosten deutlich überkompensiert.
Abbildung 4: Annahmequoten unterschiedlicher Angebote nach Kundengruppen
Kundenbindung: Was für ein Thema für die Marktforschung!
Solange wir ein Thema wie Kundenbindung aus dem forscherischen Elfenbeinturm heraus betrachten und analysieren, wird der Beitrag, den die Marktforschung hierzu leisten kann, begrenzt bleiben. Man wird uns bei der ein oder anderen geplanten Kundenbindungsmaßnahme nach unserer Meinung fragen und Idealerweise auch die ein oder andere Studie beauftragen, mit der es zu klären gilt, ob eher die Maßnahme A oder die Maßnahme B größeren Erfolg in der Kundenbindung verspricht. Insgesamt laufen wir jedoch Gefahr bei diesem Thema eher Randfiguren einer wichtigen Entwicklung zu bleiben, die in dem Maße, wie die wirtschaftliche Entwicklung weiterhin äußerst schleppend verläuft, sicherlich noch erheblich an Bedeutung gewinnen kann.
Die Autoren dieses Beitrags sind jedoch der festen Überzeugung, dass die Marktforscher wesentlich bedeutendere Beiträge, als das bislang geschehen ist, zur Bindung der Kunden an das eigene Unternehmen beisteuern können. Kreative Anwendung marktforscherischer Methodik und Instrumente zur Unterstützung der Arbeit von Callcenter Agents (und warum nicht des Vertriebs an sich?) eröffnet uns ganz neue Tätigkeitsbereiche. Unsere analytischen Kenntnisse im Umgang mit Datensätzen und Befragungsdaten ermöglichen es uns, Erkenntnisse zu Tage zu fördern, die sich den eigentlichen Praktikern der Kundenbindung zunächst nicht oder doch nur intuitiv und unbewiesen erschließen (können). Marktforschung hat hier eine Chance, zu einem der wichtigsten und wertvollsten Zulieferer und Partner derjenigen Praktiker einer Entwicklung zu werden, die unseres Erachtens noch ganz am Anfang steht.
Planung & Analyse, 04.2002
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